Räume ohne Stigma

Dipl.-Ing. Ursula Fuss arbeitet als Freie Architektin in Frankfurt und hat sich, neben ihrer Lehrtätigkeit, vor allem durch spezielle Planungen im Behinderten-Bereich einen Namen gemacht. In einem Gespräch erläutert sie ihr Konzept, in das auch persönliche Erfahrungen einfließen.

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Frau Fuss, Sie haben in den vergangenen Jahren den Schwerpunkt Ihrer Arbeit verlagert. Wie kam es dazu?

Ursula Fuss_ Seit einem Unfall im Jahr 1993 sitze ich querschnittsgelähmt im Rollstuhl, was aber die Ausrichtung meiner planerischen Tätigkeit zunächst nicht veränderte. Erst im Laufe der Jahre, verstärkt durch die eigene Erfahrung und die demografische Entwicklung, haben sich die Schwerpunkte verschoben.

Sprechen Sie damit Projekte wie die aktuellen Mehr-Generationen-Häuser an?

Fuss: Diese Häuser sind sicherlich ein wichtiger Impuls für das Wohnen der Zukunft. Mein heutiger gedanklicher Ansatz ist spezieller und hat vor allem das Ziel, Räume so zu gestalten, dass sie nicht die stigmatisierende Wirkung des behindertengerechten Wohnens ausstrahlen.

Das stellt man sich schwierig vor, da doch z.B. extrabreite Türen, besondere Lichtschalter und Haltegriffe erforderlich sind.

Fuss: Für Menschen im Rollstuhl sind verbreiterte Türen erforderlich. Hier kommt es jedoch darauf an, wie ich dieses veränderte Maß so in die Raumarchitektur einplane, dass es gar nicht als »behindertengerechte Besonderheit« wahrgenommen wird. Das Gleiche gilt für Lichtschalter, die beispielsweise durch die Ergänzung mit Wandpaneelen ihre spezielle niedrige Platzierung nicht offensichtlich werden lassen. Sichtbare Haltegriffe hingegen vermeide ich durch spezielle Lösungsvarianten.

Das überrascht, denn jedes barrierefreie Bad und jede Behinderten-Toilette sind doch mit diesen Haltegriffen ausgestattet.

Fuss: Wir sollten uns ein Wellness-Bad genauer anschauen, das ich kürzlich geplant habe. Anhand vieler dort realisierter Details wird sicherlich deutlich, wie ich arbeite.

Projektiert wurde ein Badkubus, der als Objekt im Raum wahrgenommen wird, verstärkt durch den einheitlichen Fliesenbelag innen wie außen. Dabei wurde gleich zu Beginn der Planung ein 2 %iges Gefälle des gesamten Badbodens zugrunde gelegt. So konnte im Scheitel des Raumes eine Schlitzrinne der niederländischen Firma Jereddesign eingebaut werden, die für die Entwässerung des gesamten Badkubus einschließlich der Dusche sorgt.

Das Bad ist zum Schlafbereich offen gestaltet, Türen wurden so weit wie möglich vermieden, Fensterfronten und Durchbrüche im Wandbereich geben den Blick auf Stadt und Landschaft frei. Für die Gestaltung und Anordnung der einzelnen Funktionsbereiche wurden zum Teil neue Einrichtungen entwickelt, die ein Ablegen von Utensilien sowie ein Abstützen gleichermaßen erlauben und damit den von Ihnen angesprochenen Haltegriff überflüssig machen.

Die Nutzung von Dusche und Badewanne wird durch eine fest eingebaute, raumbe-stimmende Sitzfläche gelöst. So konnte auch hier auf stigmatisierende Haltegriffe und Hilfsmittel verzichtet werden, da Abstell- und Abstützmöglichkeiten unauffällig im verglasten Bereich entstanden sind. Als Badewanne wurde eine schmale elliptische Form der Firma Mauersberger eingesetzt, an deren seitlichen Ablagen man sich abstützen kann. Eine Sitzfläche neben der Wanne ermöglicht ein sicheres Umsetzen in den Rollstuhl – sowohl innerhalb des Bades als auch zum Schlafzimmer hin. Aus dem durchgehend gestalteten Waschtisch ohne Unterschränke ragt das Einbaubecken von Niethammer einige Zentimeter über den Rand hinaus. Dies ermöglicht ein vollkommenes Heranfahren, erleichtert die Nutzung beim Händewaschen oder Zähneputzen und bietet eine zusätzliche Haltemöglichkeit.

Bei der Waschtischgarnitur fiel die Wahl auf das Model PuraVida von Hansgrohe. Die Betätigung der Armatur im aufrechten Sitz wird durch die seitliche Ausrichtung am Becken ermöglicht. Durch ihre spezielle Formgebung mit einer relativ großen Höhe kann PuraVida als Griffstange für die eine Hand genutzt werden, während die andere den Wasserhahn bedient. Es gibt optimale Lösungen mit Standardprodukten, wenn sie funktional richtig angeordnet sind.



 

Es ist faszinierend, wie allein durch Ihre Planung auf derartige Hilfsmittel verzichtet werden kann, sodass in diesem Bad wirklich eine Wohlfühlatmosphäre entsteht. Dazu trägt aber auch die Fliesengestaltung an Wand und Boden maßgeblich bei.

Fuss: Das stimmt. Seinen ganz besonderen Charme und Esprit erhält der Badkubus durch den ausdrucksstarken Fliesenbelag, der die Innen- und Außenwände sowie den Boden bedeckt. Die Wahl fiel hier auf die Serie »Landscape« von Villeroy & Boch, eine polierte Feinsteinzeugfliese im Format 7,5 x 60 cm.

Ihr lebhaftes, dem beigen Sandstein nachempfundenes Farbspiel kommt in der vertikalen Verlegung an der Wand hervorragend zur Geltung. Darüber hinaus strecken die schmalen Riemchen den Raum und laufen nach oben unregelmäßig in eine große Spiegelfläche unter der Decke aus, was den Wandflächen eine besondere Dynamik verleiht. Highlight sind die Profile der Bopparder Firma Proline. In dem gesamten Fliesenbelag wurde in jeder senkrechten Wandfuge sowie in den Längsfugen am Boden das Edelstahl-Profil »Profloor« mit geschliffener Oberfläche verlegt. Die in jeder Längsfuge verlegten Edelstahlprofile bieten zusätzlich eine erhöhte Rutschsicherheit sowie durch die Unterstützung der Fließrichtung eine perfekte Entwässerung durch die Rinne. Insgesamt wurden rund 750 laufende Meter Profile in die Fliesenbeläge integriert, in Fliesenbeläge, die ihren Charme ausspielen können und nicht durch Haltegriffe gestört werden.

Neben den »Profloor«-Profilen wurde zur Betonung der Kubusform und zur Begrenzung der Ecken und der Durchbrüche das Winkelabschlussprofil »Prodecor Q« mit 8 mm breiter quadratischer Sichtkante eingesetzt. Die Wirkung dieses Edelstahlprofils ist deutlich erkennbar und betont die Architektur.

Dagegen tritt das »Profloor«-Profil zunächst in den Hintergrund, Die feine Erscheinung der nur 2 mm breiten Sichtkante dieses Edelstahlprofils verleiht den Wänden je nach tagesabhängigem Lichteinfall eine individuelle Eleganz und Brillanz. Auf den ersten Blick ist nicht zu erkennen, woher der Glanz rührt, erst beim näheren Betrachten erschließen sich die Details.

Die Alterspyramide in unserem Land wird zu einem immer größeren Bedarf an Wohnraum führen, der behindertengerecht ist. Die bodengleiche Dusche hat ihren Siegeszug längst durch alle Generationen angetreten. Von derartigen Lösungen müsste es noch viel mehr geben.

Fuss: Ja, und darum bemühe ich mich neben meiner Lehrtätigkeit an der TU Darmstadt im Fachbereich Entwerfen und Baugestaltung auch sehr aktiv. Darüber hinaus verfolge ich beispielsweise gemeinsam mit Gestaltern, Hotelbetreibern und deutschen Produktherstellern das Ziel, in der Hotelgestaltung für alle Gäste einheitliche Zimmer anbieten zu können, die sämtliche Anforderungen erfüllen, ohne das Behindertengerechte zu zeigen.

 

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